Samstag, 1. März 2008

Aufopferungs-Analyse

Ich liege im Bett. Nicht richtig wach, aber auch nicht mehr schlafend. Habe den Wecker um zehn Minuten weitergestellt. So viel Zeit muss sein. Ein seltsames Gefühl macht sich in mir breit. Ich kann es nicht zuordnen. Irgendwas ist anders. Ich blicke verschlafen Richtung Wecker. 6:47 Uhr. Wie immer viel zu früh. Ich schalte das Radio ein und bleibe noch eine Weile dösend im Bett liegen. Das mache ich jeden Morgen so. Es ist also nicht ungewöhnlich. Vielleicht habe ich seltsam geträumt und kann mich nur nicht mehr erinnern. Ich bin nicht sicher. Aber durcheinander. Heute fühle ich mich verloren in meinem großen Bett. Ich bin allein. Wie zu oft. Aber heute fühlt es sich bedrückend an. Ein Gefühl der Einsamkeit überkommt mich. Wow.. ey.. was soll das denn jetzt bitte. Aufhöööören! Dieses Gefühl war gestern noch nicht da. Es ist über Nacht in mein Schlafzimmer eingedrungen. Wie es wohl rein gekommen ist? Durchs Fenster? Unter der Tür durch? Oder kommen solche Gefühle einfach knallhart durch die Wand? Hoffentlich hat es nicht vor, länger zu bleiben.


Während ich darüber nachgrübele, warum sich dieser Tag so verdammt unschön anfühlt, dringt eine Männerstimme in mein Ohr und die Worte „riskieren“ und „Löwe“ holen mich zurück in die Realität. Toll, ich wusste es. Das kann ja jetzt kein Zufall sein. Die Antworten auf all meine Fragen kommen aus dem Radio; wahrscheinlich kam sogar dieses blöde Gefühl über Kurzwelle. Der nette Mann im Radio wird mir gleich verraten, was heute mit mir los ist. Ich richte mich auf und drehe das Radio ein wenig lauter. Gespannt lausche ich der sympathischen Männerstimme. Gleich. Gleich. Jetzt.


„Schütze: Sie werden eine sehr sorgfältige und genaue Analyse machen müssen, um herauszufinden, ob dass wofür Sie sich im Moment aufopfern, Ihnen wirklich Vorteile bringt. Im Gefühlsbereich werden Sie bestens mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin auskommen, und überzeugt sein, die richtige Wahl getroffen zu haben.“


Danke! Das war wirklich informativ. „Arschloch!“ stoße ich aus und werfe dem Radiowecker einen bösen Blick zu. Kein Wunder, dass ich in so einer komischen Stimmung aufwache. Bei dem Horoskop. Ich soll analysieren, ob das, was ich tue, für mich von Vorteil ist? Anders gesagt, ich soll mir darüber klar werden, ob der Weg den ich eingeschlagen habe, überhaupt richtig ist... Wie kommt dieser blöde Radiosprecher dazu, mir so was zu raten? Das schlimmste ist: Er hat Recht! Es ist furchtbar, wenn man gesagt bekommt, was man tun sollte und es ist noch furchtbarer, wenn man erkennt, dass man wirklich genau das unbedingt tun sollte! Und jetzt sagen das einem schon Menschen, die man weder kennt, noch jemals gesehen hat... naja, und von andersherum mal ganz zu schweigen. Und der sagt das so selbstverständlich, als wäre es das Einfachste von der Welt. Heute mache ich mir Gedanken, ob ich so weiterlebe oder einen Neuanfang starte. Toll! Da habe ich ja gut was zu tun. Aber das dieser Hörfunkfuzzi dann noch die Frechheit besitzt, meinen Gefühlsbereich auf die Schippe zu nehmen. Wer weiß, in wie vielen Sektor-Haushalten sich jetzt der ein oder andere Schütze noch einmal an seinen Partner anschmiegt und das Zweifeln für eine Weile ablegt, da er soeben gesagt bekommen hat, dass er doch die richtige Wahl getroffen hat. Schön! Nur zu schade, dass sich nicht alle Schützen in einer Partnerschaft befinden. Welch eine utopische Vorstellung. In unzähligen Schlafzimmern werden somit zeitgleich schmerzliche Erinnerungen geweckt, ein Blick auf die leere Seite des Bettes geworfen, eine Träne vergossen. Aber nein, nicht in meinem Schlafzimmer. Jetzt wird keine Träne vergossen. Jetzt nicht mehr! Jetzt wird diesem Tag der Krieg erklärt! So nicht! So geht es nicht! Schon stehe ich auf den Beinen. So schnell bin ich selten aus dem Bett gesprungen. Passt auf, jetzt komme ich. Legt euch nicht mit mir an! Nicht heute, Leute!


Schwarz gekleidet, um meine Stimmung auch demonstrativ nach außen zu tragen, trete ich erhobenen Hauptes und mit leicht zusammengekniffenen Augen vor die Haustür. Suppentag! Heute ist Suppentag! Ein diesiger Dunst liegt über den Dächern der Stadt und wenn man ganz genau hinsieht, erkennt man am Himmel einen kleinen Lichtschein, der vergeblich versucht, den Tag zu erhellen. Streng dich nicht an. Heute schaffst du es nicht.


Auf dem Weg zur Bahn beginne ich mit meiner Aufopferungs-Analyse. Wofür opfere ich mich eigentlich auf? Und wofür sollte ich mich vielleicht eher aufopfern? Was meinte dieser Typ denn überhaupt? Redet er vom Job, von der Familie oder von Freunden? Vom Partner scheint er nicht zu sprechen, denn der ist ja so toll, dass es sich sicher lohnen würde, sich für ihn aufzuopfern. Im Moment opfere ich mich eindeutig dafür auf, eine anständige Analyse auf die Beine zu stellen. Und ich frage mich wirklich, ob das gerade von Vorteil ist.


Ich erreiche mein Bahngleis und stelle mich in die Nähe einer jungen Frau. Sie steht auch fast täglich zu dieser Zeit hier. Müde sieht sie aus. Vor ihr steht ein Kinderwagen. Sie schaut zur Anzeigetafel und beginnt hastig in ihrer Tasche zu wühlen. Familie. Mutter sein. Ein Kind versorgen und wenn möglich morgens nicht allein zu Hause aufzuwachen. Dafür könnte ich mich sicher aufopfern und ich würde keine Analyse brauchen, denn ich wüsste, dass es von Vorteil wäre. Ob ihr das auch bewusst ist? Ich schaue eine Weile beiseite, denn ich möchte der jungen Mutter nicht das Gefühl geben, angestarrt zu werden. Sie ist gerade noch so im Fokus meines Augenwinkels. Karriere. Familie. NEIN!! Nicht schon wieder! Sie zündet sich eine Zigarette an. Sie raucht. Wie immer schüttelt es mich auch heute wieder innerlich. Ich kann es nicht ändern, aber ich habe eine höchstpersönliche Abneigung gegen Kinderwagen schiebende rauchende Mütter. Bei Vätern wäre es dasselbe, aber dieses Bild bot sich mir bisher noch nie. Jetzt starre ich sie doch an. Ist mir nun egal, ob sie sich beobachtet fühlt oder nicht. Und sie tut es. Verlegen und irgendwie so, als wäre sie ertappt worden, weicht sie meinem Blick aus. Nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und pustet den Rauch genussvoll aus. Kurz darauf beugt sie sich vor, schaut lächelnd in den Kinderwagen und rückt mit einer Hand die Decke zurecht. Wut erfüllt mich! Mein Herzschlag wird schneller und ich merke, dass ich rot anlaufe. Schon oft, schon viel zu oft, habe ich sie oder auch andere rauchende Mütter beobachtet. Und oft dachte ich, man müsste was sagen. Irgendwas. Doch immer habe ich geschwiegen. Weil ich mich nicht einmischen wollte. Was habe ich mit dem Leben der anderen zu tun? Nichts. Aber heute, heute werden die Karten neu gemischt. Wenn ein mir unbekannter Radiomoderator meint, sich direkt in mein Leben einmischen zu müssen, dann darf ich das auch, denke ich und ehe ich mich versehe stehe ich einen fußbreit entfernt vor der Fremden. Ich mustere sie. Ohne ein Wort. Stehe einfach nur da und schaue sie vorwurfsvoll an. Sie ist sichtlich irritiert und fragt mich, was ich von ihr wollen würde. Ich starre immer noch. Was soll ich denn jetzt sagen? Die hält mich sicher für verrückt. Inzwischen ist meine Bahn eingefahren. Einige Fahrgäste steigen aus, einige ein. Und ich stehe starr auf der Stelle. Jetzt sollte ich was tun. Die verunsicherte Frau nimmt einen hektischen Zug von ihrer Zigarette. Mit Selbstbewusstsein ist sie anscheinend nicht gesegnet worden. Mit einer schnellen Handbewegung greife ich nach ihrer Zigarette, reiße sie ihr aus der Hand und zertrete sie demonstrativ vor ihren Augen. Ich werfe ihr einen letzten kritischen Blick zu und springe gerade noch rechtzeitig in die Bahn. Die Bahn fährt los und so lange ich die Mutter noch sehen kann, scheint sie ihre Körperhaltung nicht zu verändern. Meine Wut lässt nach. Ob mein Verhalten in ihr etwas auslöst? Ich weiß es nicht. Und bringt mir diese Aufopferung jetzt irgendeinen Vorteil? In diesem Moment werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ich fühle mich beobachtet. Mir schräg gegenüber steht ein Typ. Nett sieht er aus. Er lächelt. Meint der mich? Ja, er meint mich. „Machst du so was öfter? Fremde vom Rauchen abhalten?“ spricht er mich an. Von Vorteil. Definitiv von Vorteil, denke ich und lächle zurück.


Keine Kommentare: